Chemie digital: Wirtschaften und Arbeiten in der Zukunft
Ist die deutsche Wirtschaft fit für den digitalen Wandel? Auf der Chemie³-Tagung „Chemie digital: Wirtschaften und Arbeiten in der Zukunft“ Mitte Juni in Berlin herrschte gedämpfter Optimismus.
Dem digitalen Fortschritt aufgeschlossen, doch auch nicht ohne Skepsis präsentierte sich das Publikum im von Halbsäulen umstandenen Foyer des Humboldt-Carré am Berliner Gendarmenmarkt. Dass die Chancen der Digitalisierung die Risiken überwiegen, dazu bekannten sich in einer elektronischen Blitzumfrage 85,5 Prozent der Anwesenden. Doch nur 49,6 Prozent glaubten zu Beginn der Veranstaltung auch, dass die deutsche Wirtschaft aus diesem Prozess gestärkt hervorgehen werde.
Begeisterung für Neues ist in der Chemie immer da
Die leichte Skepsis im Saal über den grundsätzlichen Umgang mit den Herausforderungen der Digitalisierung in Deutschland spiegelte sich auch auf dem Podium. Insgesamt gelte, dass das Land „nicht unbedingt das Labor für den digitalen Fortschritt“ sei, sagte VCI-Präsident Kurt Bock, und mahnte: „Andere sind einfach schneller.“ Die Chemiebranche dagegen sei seit jeher innovations- und wissenschaftsgetrieben: „Die Begeisterung für das Neue war immer da.“ Die Chemie zeichne sich auch dadurch aus, dass sie große Themen wie die Digitalisierung gesamthaft angehe. Bock: „Wir müssen auch hier wieder den Dreiklang aus Ökonomie, Ökologie und gesellschaftlicher Verantwortung haben. Daher betrachten wir das Thema Digitalisierung auch im Rahmen von Chemie³.“
IGBCE-Chef Michael Vassiliadis, der seiner Gewerkschaft ein „positives Verhältnis zur Innovation“ nachsagte, ordnete den digitalen Wandel grundsätzlich als „Herausforderung für Unternehmen, Beschäftigte und Politik“ ein: „Ich glaube nicht, dass es einfach wird, aber auch nicht, dass die Welt untergeht.“ Der Wandel müsse durch „sinnvolle Regulierung“ einen Rahmen finden. Es dürfe „keine echten Verlierer“ geben. Gerade in der chemischen Industrie sei es auch immer wieder gelungen, solche Anpassungsprozesse konstruktiv zu begleiten: „Das ist das Leitbild. Die Sozialpartner müssen sich jetzt den Veränderungen, die die Digitalisierung bringt, stellen.“
Kai Beckmann, Präsident des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC), betonte, wie wichtig es sei, auch die Unternehmen mitzunehmen, die nicht die Speerspitze der Digitalisierung in der Branche bildeten. „Dafür haben die Chemie-Arbeitgeber die ‚Toolbox Arbeiten 4.0‘ entwickelt. Dieser Instrumentenkasten unterstützt vor allem mittelständische Unternehmen dabei, die Arbeitswelt von morgen zu gestalten.“ Auch habe der BAVC gemeinsam mit der IG BCE den Dialogprozess WORK@industry 4.0 ins Leben gerufen, in dem an sozialpartnerschaftlichen Lösungen für die Chemie-Arbeitswelt gearbeitet werde.
Professor Wilhelm Bauer vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation warnte aber: „Die erste Halbzeit der Digitalisierung haben wir verloren.“ Von den „ganz erfolgreichen Unternehmen“ der IT-Branche sei keines hierzulande ansässig. Jetzt, da der digitale Wandel die „Realwelt“ erreiche – Fabriken, Häuser, Autos – sei das Spiel wieder offen. Dass 2017 von 600 Millionen Euro an Bundesmitteln für den Breitbandausbau nur 29 Millionen abgerufen werden konnten, zeige aber, dass es noch nicht energisch vorangeht. Thomas Böck, Technologiechef des Landtechnikherstellers CLAAS, sagte, dass es falsch sei, Digitalisierung zuerst mit „Rationalisierung“ – und gegebenenfalls Jobabbau – gleichzusetzen. Schließlich böten digitale Technologien und Geschäftsmodelle enorme Wachstumspotenziale – Jobs inklusive.
Die beiden geladenen Regierungsvertreter – Staatsministerin Dorothee Bär und Wirtschafts-Staatssekretär Oliver Wittke – hatten ihre Teilnahme aufgrund der Regierungskrise kurzfristig abgesagt, und konnten ihre Sicht der Dinge nicht darlegen. Alleinige Vertreterin der Politik war daher die Bundestagsabgeordnete Daniela Kluckert (FDP), stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur. Sie betonte: „Deutschland hat viele Chancen durch die Digitalisierung. Viel zu oft blockieren Kommunen oder Behörden aber wichtige Infrastrukturmaßnahmen. Regeln müssen vereinfacht werden, damit mehr Schwung in den Netzausbau kommt.“
An Erfahrungen der chemisch-pharmazeutischen Industrie mit erfolgreich bewältigten „disruptiven“ Ereignissen der Vergangenheit erinnerte VCI-Präsident Bock. Er nannte die damals „dramatische“ Umstellung der Rohstoffbasis von Kohle auf Öl und die „völlig neue Dimension“ der Umweltdebatten in den achtziger Jahren, als die Branche „unter starken Druck“ geraten sei. Heute sei sie Vorreiter im Umweltschutz. Die Mitarbeiter seien anpassungsfähig: „Wir haben die Ambition, auch künftig eine führende Branche weltweit zu sein.“
Dass die Podiumsdiskussion zumindest zu etwas mehr Optimismus bei den Zuhörern geführt hat, zeigt sich am Ende der Debatte: Der Anteil jener, die von der Digitalisierung eine Stärkung der deutschen Wirtschaft erwarten, war laut Blitzumfrage auf 52,3 Prozent gestiegen.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion fanden zwei vertiefende Dialogforen statt. Hier finden Sie die ausführlichen Berichte:
Forum 1: Chemie 4.0 — Digitalisierung als Beschleuniger für mehr Nachhaltigkeit?
Forum 2: Arbeiten 4.0 in der Chemie — Schreckensszenario oder Verheißung?